Das weiße Buch

aus:  "Schriftlings". Kurzprosa, Literarische Gesellschaft Karlsruhe 1997


Es sah aus wie ein richtiges Buch. Es hatte Seiten wie ein richtiges Buch, die sich beim Blättern ein wenig wölbten, einen festen, glatten Einband und einen breiten Rücken, auf dem man sonst auf- oder abwärts den Titel lesen konnte.

Aber es stand nichts drin: von vorn bis hinten leeres, weißes Papier. Ein Blindband, ein Muster, mit dem alle nur so taten, als sei's ein richtiges Buch, erklärte ihre Tante, die für einen Verlag arbeitete. Da könne sie jetzt eine Geschichte nach der anderen hineinschreiben. Oder schöne Bildchen einkleben. Oder im Urlaub alles genau festhalten. Als ob's ein richtiges Buch von ihr wäre.

Das blinde Buch lag vorn an der Tischkante. Sie drehte es kurz in der Hand und schob es wieder von sich. Es war so leer und doch fertig, eine seltsame Sache, wie ein Albino, den man ständig anstarren muss. Zuerst wollte sie eine Geschichte aus dem Deutschheft abschreiben. Die letzte Hausarbeit, bei der sie fünf Schlüsselwörter unterbringen musste, war richtig spannend geworden und auf jeden Fall die längste der Klasse. Ihre Geschichte handelte von einer Familie mit sechs Kindern, die in den Slums von Lima lebt, in einer selbstgezimmerten Hütte. Für alle Kinder hatte sie sich schöne spanische Namen ausgedacht. Der älteste, Roberto, muss für die ganze Familie sorgen, weil der Vater in einer Silbermine umgekommen ist. Er putzt Schuhe und schleppt Koffer und bekommt immer mal von einem Gemüsehändler was zugesteckt. (Da waren schon drei Seiten weg und alle Wörter abgehakt, aber sie hatte noch mindestens doppelt so viel zu erzählen!) Schließlich rettet Roberto seine Schwester Andalusia, die von Kidnappern nach Europa gebracht werden soll. Das beobachtet eine reiche Dame, und sie findet beide so hübsch und gut erzogen, also dürfen alle Kinder mit der Mutter in ihrem großen Haus wohnen, und Roberto wird ihr Gärtner.

Sie könnte gleich noch die Fortsetzung schreiben, wie Roberto die Dona vor Einbrechern warnt und Andalusia einen Artikel über die Slums und die Silberminen schreibt, der von einer großen Zeitung auf der ersten Seite abgedruckt wird - aber es war alles nichts für das richtige, leere Buch. Sie spitzte ihren Bleistift, bis er fast absplitterte, und fing an, die Seiten zu numerieren. Als sie halb durch war, blätterte sie zur ersten Seite zurück und schrieb oben in die Ecke das Datum. Sie wollte vom Völkerballspiel berichten und was heute so lustig daran gewesen war, sie und die Freundin hatten nur noch auf der Mauer gesessen und gekichert, fast wären sie hinten runtergefallen vor Lachen, oder halbwegs umgekippt in die Sonne, die ihnen übers Gesicht tropfte. Die andern hielten beleidigt die Hand vor die Augen, waren auch bald weg. Die Freundin hatte was über den Jungen aus dem Tulpenweg gesagt: Damit ging es los. Also schrieb sie schon mal ins weiße Buch: "..., sagte sie."

Oder sollte sie weiter von vorn anfangen, mit dem Tag von Anfang an, aber ein Wort hatte sie auf die Mauer befördert, eine Kette von Wörtern, die Freundin gab das eine, sie das andere, über die Straße flog ihnen noch was zu: Plötzlich saßen sie oben, und alles war anders.

Sie überlegte, bis das Kichern ganz versickert war und nichts übrigblieb als leere Straße, leere Mauer. Dann radierte sie alles wieder aus, den ersten Satz und die Seitenzahlen, und blies den kleinsten Gummirest vom Tisch.

Kurz vorm Einschlafen fiel ihr ein, wo es hingehörte. Im Dunkeln zwängte sie das neue Buch zu den Jack London-Bänden, neben die Geschichte vom Trapper und dem Schneehuhn. Seit ein paar Wochen lag ihr diese Stelle im Kopf, wie ein Stein im klaren Wasser, während alles andere fortgeschwemmt ist. Ein Trapper hat sich im Schnee verirrt, mitten in der Wildnis, und ist beinahe am Verhungern. Da entdeckt er ein Schneehuhn. Es tanzt immer wieder um ihn herum, vielleicht könnte er versuchen, es zu fangen. Aber dazu hat er nicht die Kraft, er hat nur ein Gewehr und darin einen einzigen Schuss, wenn er also treffen würde, todsicher treffen, dann könnte er am Leben bleiben. Er könnte natürlich auch sich selbst erschießen. Schluss mit der Kälte und dem Hunger, aber das wäre gegen die Ehre und eigentlich nicht vorstellbar. Wenn sie die Augen schloss, war sie ganz leicht der Trapper, vor Angst schwitzend, verlassen in der Kälte (vermisst ihn denn niemand? Geht ihn niemand suchen?), die gefrorenen Finger um den Auslöser gekrallt, vor sich das Huhn, das launisch hin- und herfliegt, abdrücken, nein noch nicht, aber vielleicht, nur ruhig: ein Knall, eine Sprengung in die Stille und den Schnee hinein, das Huhn fällt runter, die Hände zittern, Mund und Backen zittern, jetzt konnte es weitergehen, jetzt las es sich leicht weiter mit Gesprächen, langen Schilderungen. Aber der Mann allein in der Schneewüste, mit einem freien Schuss, das war ungeheuerlich, da musste das weiße Buch danebenstehen, es musste den Schnee mitragen.