Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Margret Rettich 1926-2013
Ihre Kinderbücher in der Universitätsbibliothek Braunschweig

am 28.11.13

Liebe Frau Dr. Nagel, sehr geehrter Professor Brandes, liebe Freunde von Margret und Rolf Rettich, sehr geehrte Damen und Herren,


ja, Margret Rettich fehlt vielen; aber Carola und Matthias Bernau und ich als Vertreter der Familie freuen uns sehr, dass jetzt, ein halbes Jahr nach ihrem Tod, diese schöne Ausstellung zusammengestellt wurde, dafür herzlichen Dank Ihnen, Frau Dr. Nagel und Herr Wolff. Und danke für die Einladung, hier etwas zu Margret Rettich, meiner Tante, sagen zu dürfen. In den Vitrinen ein wunderbarer Überblick über Margret Rettichs Werke als Kinderbuchillustratorin und -autorin, oft in Zusammenarbeit mit ihrem Mann Rolf Rettich, sowie Manuskripte, die einen Einblick in ihre Arbeitsweise geben. Besonders spannend in dieser Zusammenstellung finde ich die Entwicklung ihres Stils von der schwarz-weiß Grafik der Sechziger Jahre, beweglich und expressiv – auch Ausdruck einer Zeitstimmung, der „Swinging Sixties“ –, bis zu den späteren farbigen, meisterlichen man kann sagen: Gemälden in, beispielsweise, der „Geschichte vom Wasserfall“ von 1974 und der „Reise mit der Jolle“, für die Margret Rettich 1981 als Autorin und Illustratorin den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. 

Um diese besondere Doppelbegabung als Grafikerin und Geschichtenerzählerin, diese erstaunliche Kreativität bis ins hohe Alter zu beschreiben, möchte ich als „Unterbau“ nennen: Handwerk und Erfahrung, als „Oberbau“: Lebenszugewandtheit und Witz. Handwerk: das ist ihre profunde Ausbildung als Gebrauchsgrafikerin an der Kunstgewerbeschule Erfurt kurz nach dem Krieg; dort hat sie in der Bauhaus-Tradition nicht nur Grafik, Druck, Kalligraphie, sondern auch Arbeiten in Ton und anderen Materialien umfassend gelernt. Daher auch ihre Wertschätzung des Handwerklichen, ihr Interesse dafür, „wie die Dinge gemacht werden“. Erfahrung: Das ist ihr genauer Blick, ihre zugeneigte Beobachtung des Alltags. Auch ihre Art zu erzählen ist davon geprägt; und Walter Benjamins Gedanken in seinem Aufsatz „Der Erzähler“ über Nikolai Lesskow scheinen auf sie gemünzt: „Der Erzähler“, schreibt Benjamin, „nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung, aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören.“ Margret Rettich hat am liebsten Geschichten erzählt, die sie aufgenommen hatte und weitergeben wollte – angefangen mit der „Geschichte vom Wasserfall“, die eine alte Dame in einem Schweizer Berghotel ihnen am Abend erzählt hatte.

Walter Benjamin unterscheidet diese Art zu erzählen vom Roman, dem großen Sinnsucher; die Erzählung hingegen, so Benjamin, sei eine „gleichsam handwerkliche Form der Mitteilung… So haftet an der Erzählung die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Töpferscheibe.“ Margret Rettich hatte Töpferhände, sie hatte Maler- und Gartenhände; die genialische Attitüde war ihr fremd, sie hat alles geerdet. 

Ich erinnere mich, als ich damit begann, den Erwachsenen mal etwas genauer zuzuhören, vielleicht bei einer Konfirmation in unserer Familie und sicher in den alternativbewegten 70er Jahren, da höre ich Margret Rettich ausrufen: „Jetzt fangen sie zur Selbstverwirklichung auch noch an zu töpfern und preisen es an! Dabei war das früher ein Handwerk, das hat man richtig gelernt.“

Als ich ihr in den letzten Jahren immer mal von meinem Japan-Faible erzählt habe, von einem Haiku-Aufsatz und eigenen Haiku-Dichtungen, da meinte sie, dass sie das auch recht interesssant finde: weil es aus einer alten Kultur komme. Keine kulturelle Blütenlese ohne den Erfahrungsunterbau. Sie und Rolf Rettich haben auch keine Weltreisen gebraucht, um die Welt kennenzulernen. Ihre Erfahrungen, aus denen sie ihre Geschichten webten, stammten aus Stettin, aus Erfurt und Adelsheim (wo Rolf aufwuchs), aus Vordorf und Braunschweig. Und was ihnen von anderen erzählt wurde, am Küchentisch oder bei ihren großen Gästerunden, haben sie aufgenommen, sofern es gute Geschichten waren! Wenn noch nicht so ganz, haben sie gern ein bisschen nachgeholfen. So bekamen wir manchmal eine Geschichte, die uns passiert war und die bei Margret Rettich gelandet war, von ihr wiedererzählt (oder haben sie in einer ihrer Geschichten gefunden) und dachten zunächst: aber dies und das war doch ganz anders! Aber die Geschichte war jetzt schon ziemlich gut und konnte so in den Familien-Legendenschatz eingehen. Manchmal haben wir uns auch gewundert: Was erleben die Rettichs nur für Geschichten! Sie erlebten wohl nichts anderes als wir alle, aber hatten die Begabung, sofort das Bemerkens- und Erzählenswerte einer Situation zu erfassen. Sie haben oft eine Spur tiefer geblickt – mit etwas, das man altmodisch „Weisheit“ nennt. Es waren auch nicht nur „schöne“ Geschichten, manche auch recht schwarz, wie das Leben.

Tief eingeprägt hat sich mir auch eine Bemerkung von ihr – weil es ein Gesichts-punkt war, der mir damals völlig fern lag –, zur Anlage von Schlossgärten. Das Gespräch ging um Sichtachsen, Labyrinthe und Hecken und Margret Rettich meinte ganz unpathetisch: „Für die, die den Garten angelegt haben, war das natürlich nichts. Erst für die nächste Generation. Aber die Menschen hatten ja Zeit –!“

Erfahrungen brauchen ihre Zeit, gute Dinge brauchen ihre Zeit. Die Rettichs haben sich gerne mit schönen alten Dingen umgeben, oft Flohmarktfunde: Gegenstände, die eine Geschichte haben, die von einem vielleicht vergessenen Handwerk zeugen, aus einer Zeit vor der industriellen Massenproduktion. Manchmal waren sie Anlass für ihre Bücher: So regten alte Schautafeln aus der Grundschule, die Margret Rettich vor dem Sperrmüll gerettet hatte, zum Band „Erzähl mal, wie es früher war“ an. Auch Walter Benjamin, Sohn eines Kunst- und Antiquitätenhändlers, hat alte Kinderbücher gesammelt, und sein Buch „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ vereint Prosaminiaturen über das Rauschen im ersten Telefon, über den Lesekasten oder das Kaiserpanorama. Margret Rettichs Mutter war übrigens Telefonistin in Erfurt, bevor sie nach Stettin geheiratet hat (also ein moderner Beruf, „etwas in der IT-Branche“ würde man heute sagen), und was sie von dieser Tätigkeit erzählt hat, ist in die Geschichte „Kaiserweihnachten“ in den „Wirklich wahren Weihnachtsgeschichten“ eingeflossen (als plötzlich Kaiser Wilhelm II. in der Leitung ist und alle Telefondamen dieser Stimme lauschen, „abgehackt und forsch“).

Dass Margret Rettich die „gute alte Zeit“ auch nicht zu idyllisch gesehen hat, zeigt z.B. das Bilderbuch „Komm, wir drehen die Zeit zurück“ mit wunderschönen Tableaus, auf denen dargestellt ist, wie sich eine Landschaft – immer die gleiche Flusslandschaft mit einem Berg – im Laufe von 2000 Jahren verändert hat. Es gibt kaum einen anschaulicheren Geschichtsunterricht! In den begleitenden kleinen Erzählungen wird immer eine Familie aus der Epoche vorgestellt, und im 19. Jahrhundert hat sie einen Untermieter, der Karl Marx bewundert! Allerdings wird ihm gekündigt.

 Die Erzählung ist die Urform des Epischen, und das Epos ist eine Schöpfung aus dem Chaos. Jede gute Geschichte ist eine entschiedene Schöpfung aus dem Chaos, aus der Fülle der Möglichkeiten. Margret Rettich lässt ihre Erinnerungen, die sie für die Familie aufgeschrieben hat („Familiengeschichten“), damit beginnen, dass die Schwestern ihres Vaters und weitere weibliche Verwandte in Dievenow, der Sommerfrische der Stettiner, nach einer Frau für ihn Ausschau halten. Der Vater war bereits 1914 in russische Kriegsgefangenschaft geraten und erst nach acht Jahren auf abenteuerliche Weise aus dem fernen Sibirien wieder nach Haus gelangt; mittlerweile, Mitte der Zwanziger Jahre, hat er sich als Architekt in Stettin gut etabliert. Auf dem Strand sichten die Schwestern mehr oder weniger ernsthaft die Fülle der Möglichkeiten: Vielleicht die Brünette? Oder die Große? Oder ihre Begleiterin, die im Alter passender? In einem glücklichen Zufall begegnet Paul Müller der eben erwähnten Telefonistin aus Erfurt, Helene Würzbach, die zum ersten Mal mit eigenem Geld in den Urlaub, an die ferne Ostsee! gefahren ist. Daraus erwächst eine sehr glückliche Verbindung, ein harmonisches Familienleben mit zwei Töchtern, das auf die Kinderbücher von Margret Rettich und, nebenbei, auch auf die nächste Generation abgestrahlt hat.

 
Ein ähnlich glücklicher und wirklich erstaunlicher Zufall führt in den Fünfziger Jahren Margret und Rolf Rettich zusammen: Er, der eigentlich in Westdeutschland lebt und als Grafiker erste Erfolge hat, will noch einmal das Haus seiner Großeltern in Erfurt besuchen, wo er seine ersten zehn Lebensjahre verbracht hat. In diesem Haus leben mittlerweile die in Stettin „ausgebombten“ Müllers, Rolf Rettichs Geburtszimmer ist jetzt das Arbeitszimmer ihrer Tochter Margret. Margret und Rolf Rettich leben dann zwei Jahre lang in Leipzig und arbeiten sehr erfolgreich für die Messe, bis sie 1960 nach Westdeutschland, nach Braunschweig, übersiedelen.

Dort gelingt ihnen nach einigen Werbeaufträgen recht bald der Einstieg in die Kinderbuchillustration. Dank ihres phantasievollen Zeichenstils und der großen Arbeitsfreude werden sie im Lauf der 60er Jahre zu einer der bekanntesten Illustratoren, die Werke von Astrid Lindgren, James Krüss oder An Rutgers mit unverwechselbaren Zeichnungen bereichern.Von heutiger Warte aus erkennt man, welche Pionierleistung dieser frische, fröhliche, ganz un-betuliche Strich war.

Ich freue mich besonders über diese Vitrine mit den Kinderbüchern aus den 60er Jahren, den guten Buchgeistern meiner Kindheit – und bei manchen Titeln erinnere mich eher an die Illustrationen als an die Geschichte, an die Abfolge der Illustrationen, und vor allem erinnere ich mich daran, wie die Rettichs bei uns vorfuhren und ihren Kofferraum öffneten, voll mit druckfrischen Büchern! Es war immer ein großer fröhlicher Auftritt. Und wenn wir bei ihnen zu Besuch waren, gab es stets verrückte Sachen, z.B. Eis vor dem Schlafengehen! Meist haben wir auf der Fahrt nach Norwegen bei ihnen Station gemacht; und während meine Eltern nochmal das Auto umpackten – den Inhalt des Kofferraums, einschließlich zahlreicher Stofftiere, auf dem Mäuerchen aufreihten (bei meiner Tante wurde in der Erzählung soviel, als seien wir mit drei Lastwagen vorgefahren und nicht mit einem VW-K 70!), während also meine Eltern versuchten, das alles wieder im Auto unterzubringen, sind meine Brüder und ich auf dem Rundweg im Garten entlanggerannt – manchmal hatten die Rettichs da kleine Pfeile oder Bildchen mit Straßenkreide gemalt, und irgendwo lauerte Onkel Rolf mit dem Gartenschlauch!

Jetzt sind wir in den 70er Jahren angelangt! In den 70er Jahren beginnt Margret Rettich, eigene Bilderbücher zu entwerfen – die erwähnte „Geschichte vom Wasserfall“ (1974) oder „Zinnober in der grauen Stadt“ (1973), der vor kurzem wiederaufgelegt wurde –; und sie stellt Geschichten zusammen, die dann oft von Rolf Rettich illustriert werden. Nicht nur in seinen Zeichnungen, auch in ihren Texten blitzt das erwähnte Chaos als Urgrund des Epischen, die Lust am „schönen Durcheinander“, wie sie gesagt hätte, immer wieder auf. Jetzt in der beginnenden Adventszeit sei an manche „Wirklich wahre Weihnachtsgeschichte“ erinnert, in der das Chaos die Vorbereitungen streift und das Fest nur umso schöner macht. So an die Geschichte vom Christbaum bei Tante Trude, dem größten und natürlich schönsten von ganz Stettin, der, von zwei sich langweilenden Kindern ganz zart angestupst, auf die große Kaffeetafel stürzt und endlich das steife Familienfest aufmischt; an das Lichtspektakel im Weihnachtsgottesdienst, das ganz anders verläuft als geplant und nach dem die Menschen beschwingt nach Haus gehen, „als kämen sie aus dem Kino“. An die verlegten Geschenke, verwechselten Pakete, die Kinder, die sich natürlich nur ein wenig verlaufen oder die, wie Elsie, im Klo stecken bleiben… (diese Geschichte gab’s dann nochmal als eigenes Bilderbuch und als erfolgreichen Fernsehfilm). Das sind Geschichten, die sich Kindern wie Erwachsenen einprägen.

In Erinnerung rufen möchte ich aber auch die stillen Geschichten, z.B. – mein Favorit, vielleicht weil es so ein poetischer Einfall ist – „Post für den alten Mann“. Die Nachbarn im Mietshaus machen sich Sorgen: der arme alte Mann, so allein, und zu Weihnachten keine Post! Bis endlich der Paketbote kommt und allerlei Päckchen für ihn abgibt. Darin: Erinnerungsstücke, die er sich selbst geschickt hat und jetzt auspacken und neu betrachten kann. Auch ihm gehen die Erzählungen nicht aus… Im übrigen, es sind wirklich „Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten“, das kann ich bezeugen, denn ich komme darin vor, mit Klarnamen („Die Geschichte vom Wunschzettel“) – aber auch hier ist der letzte Schliff die gute Erfindung…

Die letzte „Wirklich wahre Weihnachtsgeschichte“, am Ende des zweiten Bands, heißt „Märchen“ und handelt von einer Frau, die sich am Ende des Krieges, inmitten von Trümmern, mit nichts, vornimmt, einen Weihnachtskuchen zu backen. Wie sie es schafft, die nötigen Zutaten zu beschaffen – über zum Teil irrwitzige Tauschketten – und den Kuchen zu backen und zu verteilen, ja, das klingt nach einem Märchen und zeigt, dass Margret Rettich weiß, was der Urgrund vieler Märchen ist: die Not („Hänsel und Gretel“ z.B. ist ja eigentlich eine Hungerphantasie), und was am meisten nottut, „not-wendend“ ist: das Vertrauen, dass alles „wieder gut wird“, oder manches wieder gut oder auf andere Weise gut. Arno Schmidt, der ganz in der Nähe von Vordorf, in Bargfeld, gelebt und geschrieben hat, bemerkte einmal: „Überleben wird nur der, der aus einer Katastrophe noch eine Geschichte macht.“

Margret Rettich hat erlebt, wie ihr Elternhaus in Stettin bei einem Luftangriff zerstört wird; ihre Großmutter stirbt in den Trümmern, ihr Lieblingscousin Arno, der sie zum Zeichnen ermuntert und mit zu Abendkursen genommen hat, fällt in Russland. Ihr Vater, ihre Mutter und die jüngere Schwester müssen mit wenigen Dingen, die in einen Rucksack passen, auf die Flucht gehen zu den mütterlichen Verwandten in Erfurt. Margret selbst wird abkommandiert zum Ostwall-Schippen, und als „Maid“ des Reichsarbeitsdienstes soll sie auf Dörfern im Osten aushelfen, durch die bereits große Flüchtlingstrecks ziehen. Wegen einer unvorsichtigen politischen Äußerung (ihr Vater hat immer heimlich BBC gehört) kommt sie in eine Strafabteilung in Unterlüss und muss unterirdisch Granaten polieren. Sie begegnet – Schock ihrer Generation – KZ-Häftlingen. Als sie in einem Skizzenblock die anderen Frauen zeichnet, fällt ihr Talent auf und sie erhält einen Schreibtischposten; ein Offizier gibt ihr die Weisung, sie solle „nach Herzenslust malen und zeichnen, bis dieser verdammte Krieg zuende ist“. Als alles zusammenbricht, schlägt auch sie sich nach Erfurt durch. Stettin mit allen Familien- und Kindheitsgeschichten ist jetzt Vergangenheit und kann nur in der Erzählung bewahrt werden.

Diese persönliche Erfahrung, die Odyssee durch ein Land im letzten Kriegsjahr, hat sicher auch manche historische Erzählung von Margret Rettich geprägt (denn sie liebte, wie die schönen alten Dinge, auch historische Stoffe), so die „Reise mit der Jolle“, für die sie 1981 den Jugendliteraturpreis erhielt. Auch für Kinder heute kann es noch sehr spannend sein mitzuerleben, wie man sich durchschlägt ohne Handy oder GPS. Denn da können die Akkus versagen, und der Empfang plötzlich gestört sein. Wichtiger ist der innere Akku. Bei Margret Rettich war er sicher mit dem Netzwerk ihrer Kindheit verbunden, mit phantastischen Schaltkreisen. Und mit Erfahrungen, die damals noch nicht im geschützten kindgerechten Rahmen gemacht wurden; so erinnerte sie sich ihr Leben lang daran, wie ihre Großmutter vor ihren Augen eine Gans gerupft und ausgenommen hat. In den Familiengeschichten schildert sie sehr anschaulich auch kindliche Ängste, frühe „schrecklich schöne Schauergeschichten“… Aber das kann nur den wundern, der meint, das Reich der Phantasie sei ein hübscher Kleingarten. Eine „schrecklich schöne Schauergeschichte“ handelt davon, dass ein Kind namens Margaretchen nachts ein Reh befreit, das eigentlich als Konfirmationsbraten willkommen war. Vielleicht hätte es Margret Rettich gefallen, dass wir kurz nach ihrem Tod im hinteren, naturnahen Teil ihres Gartens ein großes Reh aufgestört haben.

Das am stärksten zerlesene Rettich-Buch war bei meinen eigenen Kindern „Hier kommen die Radieschen“, ein Gemeinschaftprojekt der Rettichs, ohne Worte. „Radieschen“ verstehe ich als Diminutiv von Rettich, und die Radieschen, zwei Kinder, bringen ins Kinderzimmer allerlei Mini-Chaos-Geschichten mit natürlich baldiger glücklicher Wendung. Aber, oh je, ein Radieschen-Kind steigt auf ein wackliges Fass, um an einen Apfel zu gelangen. Es fährt Rollschuh ohne Knieschützer. Die beiden Radieschen spielen, wer von der höchsten Treppenstufe springen kann – sicher kein TÜV-geprüftes Spielgerät!

Auch das Geheimnis der erfolgreichen „Jan und Julia“-Bände liegt wohl hier: neben der genauen Schilderung des Kinderalltags, den Bildern, die sich lange, immer wieder, betrachten lassen, ist es die kleine besondere Pointe, so dass beide, das Kind und der vorlesende Erwachsene, am Schluss nochmal auflachen und sich vielleicht selbst noch etwas zu erzählen haben. Mehr pädagogische Zutat, und das Buch wäre versalzen.

Dicht dran in der Liste der zerlesenen Rettich-Bücher sind die von Margret Rettich illustrierten „Kindergedichte“, besonders beliebt die Seiten zum „Bucklichten Männlein“ und der „Ammenuhr“. Sie wusste schon, was die allererste und immer noch wirkungsvollste Kinderliteratur ist: die Ammenverse. Sie selbst hat eigene Kinder-Reimgedichte verfasst („Es war einmal eine Gans, die wackelt’ mit dem Schwanz“) und in „Kleine Märchen“ vierzig Märchen aus verschiedenen Ländern neu erzählt. Auch hier sieht sie sich als eine, die sich in eine Tradition stellt und weitergibt.

Reimgedichte und Märchen sind nicht nur die älteste Kinderliteratur, sie kommen auch aus einer mündlichen Erzähltradition. Die mündliche Erzählung – und das gute Zuhören! – sind eine heute wirklich seltene Kunst. Der Anfang dieser Woche leider verstorbene Peter Kurzeck war so ein Meister im freien Erzählen; vor zwei Jahren ungefähr hatte ich Margret Rettich eine CD von ihm geschenkt, und sie schrieb mir später in einer Mail, dass sie eine halbe Stunde in der dunklen Garage im Auto gesessen sei, weil sie sich einfach nicht von Kurzecks Erzählstimme lösen konnte. Aber Margret und Rolf Rettich selbst hatten nie Probleme, das kritischste Publikum, einen Saal voller Kinder, bei einer Lesung in ihren Bann zu schlagen. Sie frei erzählend oder mit ruhiger Stimme vorlesend, er zeichnend. Mit seiner schnellen sicheren Hand, seinem schrägen Witz. Auch hier haben sie sich ideal ergänzt; ihre Lebens- und Arbeitsgemeinschaft war einmalig und bewundernswert. 1997 erhielten sie gemeinsam den Großen Preis der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach.

Zum „Unterbau“ Handwerk und Erfahrung gesellt sich bei Margret Rettichs Sachbüchern noch die gründliche Recherche. Sie hat sich immer sehr dafür interessiert, wie die Dinge entstanden sind; so hat sie sich beispielsweise für das „Buch vom Bergwerk“ oder ihre historischen Erzählungen wie „Soliman der Elefant“ gründlich in die Materie eingelesen. Ihr Horizont war beeindruckend weit, als Leserin (so hat sie sich in ihrem letzten Lebensjahr noch durch  den „Ulysses“ von James Joyce gearbeitet), als kulturell und historisch Interessierte, als Zeitgenossin. Sie konnte mühelos von Rezepten für Brombeermarmelade zu Balzac und von dort zu Beethovens Symphonien wechseln. Mir hat sie einmal am Frühstückstisch in einer langen Erzählschleife die Higgs-Teilchen erklärt (kurz zuvor war ihre Großnichte mit ihrem Freund, einem Physiker, zu Besuch gewesen), zwischendurch wahrscheinlich die Katzen gefüttert, ein kurzes Telefonat geführt und, nebenbei, etwas für das sicher dreigängige Mittagessen angerührt – sie war in ihrer entschleunigten Küche immer noch bei den beschleunigten Teilchen in Genf oder den Neutrinos in einem Tunnel unterm Apennin, als ich mich selbst schon längst mit der Erklärung zufrieden gab, dass die Higgs-Bosonen eben etwas sind, das irgendwelche Theoriegebäude zusammenhält.

Margret Rettichs einziges romanähnliches Buch, abgesehen von den autobiographi-schen Aufzeichnungen für die Familie, ist vielleicht „Die Rabenschwarze“. Aber sie ist doch eher wieder eine erfahrungsgesättigte Erzählung, diesmal eines Katzenlebens. Woher weiß die Autorin eigentlich so genau, wie es ist, mit einer Taube zu kämpfen, Frösche zu verschlucken, auf freiem Feld zu leben, drei Katzenjunge von Versteck zu Versteck zu schleppen und eines davon, das am Bein verletzt ist, bei diesen komischen „ungezogenen“ Wesen, den Menschen, unterzubringen? Sie weiß es jahrelanger Beobachtung ihrer eigenen Katzen und anderer Tiere. Die beiden anderen Katzenjungen, die auf ein Überleben in der freien Natur vorbereitet werden, verhalten sich übrigens stark geschlechtstypisch: der forsche kleine Kater, das zurückhaltende ängstliche Kätzchen (wie in vielen ihrer Geschichten, aber wahrscheinlich hätte sie es albern gefunden, dies nur aus Gründen der political correctness umzustellen). Darüber aber die Rabenschwarze, die starke, freie und allermutigste Katze, in der sich die Autorin, die große Weltbeobachterin und besonnene Künstlerin, vielleicht selbst porträtiert hat.

Sie musste keine Romane schreiben, keine fiktive Welt entwerfen – ihre Leben war die Fülle, auch an Geschichten. „Der Erzähler weiß Rat“, schreibt Walter Benjamin abschließend in seinem Essay über den Erzähler, „nicht wie das Sprichwort: für manche Fälle, sondern wie der Weise: für viele. Denn es ist ihm gegeben, auf ein ganzes Leben zurückzugreifen… Der Erzähler – das ist der Mann [die Frau!], der den Docht seines Lebens an der sanften Flamme seiner Erzählung sich vollkommen könnte verzehren lassen“.

„Die sanfte Flamme der Erzählung“ – da sehe ich Margret und Rolf Rettich wieder am Tisch sitzen, mit Freunden oder mit der Familie, und erzählen. Aber man muss nur ihre Bücher aufschlagen, sich über Rolfs skurril erzählende Zeichnungen beugen oder über Margrets „episch“ angelegte Tableaus, dann ist der Schein dieser Flamme wieder da (verbreitert und verbreitet sich), vor allem auch in ihren wirklich wunderbaren, weisen Geschichten.

Rettich-Portrait