Ulrich Koch im Poetenladen


Laudatio auf Ulrich Koch

zur erstmaligen Verleihung des Förderpreises des Stuttgarter Schriftstellerhauses am 24.4.07

Weißt du, was wir vergessen haben?
Wir haben vergessen, was unser Geheimnis war.
Jetzt weiß es jeder.


Das ist völlig unlogisch. Das ist völlig einleuchtend. Wir befinden uns mitten in einem Gedicht, dem Gedicht "Der Mann mit Hund" von Ulrich Koch. Eines von vielen Gedichten, die dem großen offenliegenden Geheimnis - das natürlich kein Geheimnis mehr ist, wenn es jeder kennt - die vielen kleinen Geheimnisse abtrotzen, bislang unbekannt oder halb vergessen, oder: die uns an unser eigenes Geheimnis erinnern und daran, es ja nicht zu vergessen - was noch schlimmer klingt als: es zu verraten -, also: die grundsätzliche Geheimnisbereitschaft nicht abzulegen.

Es war meine erste Jurysitzung, und ich war angenehm überrascht: Das kleine Stuttgarter Schriftstellerhaus leistet sich die große Freiheit, über Verlagsnamen und Vorprämierungen zunächst einmal hinwegzusehen. Den Namen Ulrich Koch kannte keiner von uns. Aber wir waren uns schnell einig: unter den knapp 130 Bewerbungen für die Aufenthaltsstipendien war seine die stärkste Lyrikeinsendung, die uns nicht nur förderungs-, sondern förderpreiswürdig erschien. Dabei freut mich selbst natürlich besonders, dass wieder mal eine Bühne da ist für die Lyrik, die es ja immer schwer hat, beim Publikum, bei den Verlagen. An Ulrich Kochs Gedichten lässt sich jedoch sehr gut zeigen, dass Lyrik keine Geheimwissenschaft ist, sondern eine, die in durchaus spannenden Szenarien das Geheimnis auf offener Straße verfolgt.

Das Besondere an den Gedichten von Ulrich Koch, so fanden wir, ist ihre überraschende, „Augen öffnende“ Bildlichkeit – und ihr Eigensinn und ihre Eigenständigkeit. Mir fiel kein Lyriker zum Vergleich ein, die Gedichte klangen nicht modisch, nicht nach einer lyrischen Schule. Am ehesten, dachte ich, könnte man ihn mit dem amerikanischen Lyriker Charles Simic in Verbindung bringen, mit dessen real-surrealer Bildsprache, die von einem quasi-alltäglichen Setting entführt auf eine metaphorische, metaphysische Ebene, ohne daß die Bilder ganz aufzuschlüsseln sind – wie in dem Gedicht „Der Bäcker“:

Wenn sein Hund mit der menschlichen Stimme
das erste Selbstgespräch beginnt,
steht er schon in seinem kleinen Laden, vom Mehl
bestäubt, ein Mann von drei Zentnern
mit offenen Beinen. Die Eistruhe
beheizt den Raum.

Im alten Wohnwagen hinterm Haus
wohnt von Mai bis Dezember eine Handvoll Gänse.
Abends trägt er seine Mutter nach oben
ins schlaflose Bett.
Neben dem Wohnwagen steht ein verrosteter Betonmischer
wie eine Lostrommel
für vergangenes Glück.


In einem anderen Gedicht gibt es einen „Rektor am Institut für erfolgloses Schreiben“, der aus einem „wieder überlaufenen Seminar“ zurück kommt in ein trostloses Zuhause, wo seine Frau auf einen allmählich kollabierenden Fernseher starrt und seine beiden Kinder Brei löffeln, wobei die Löffel auf dem Teller klingeln – ja, das hört er – und er nimmt das Laub wahr, das „wie die Unterseite von etwas riecht“, und hört den Regen oder auch nicht, denn er ist „fast lautlos. / Als liefen Katzen / durchs dunkle Treppenhaus“. Aber Inhaltsangaben von Gedichten sollte man sich eigentlich verbieten. Sieht jedenfalls nicht gut aus fürs wirklich erfolgreiche Schreiben. Aber der Rektor steht ja auch einem Institut für erfolgloses Schreiben vor. Ja, Lyriker sind sicher, wie es in Kochs Gedicht „Halb Morgen, halb Gebet“ heißt: „Strippenzieher der Leere, / Jasager des Schmerzes, / Schwarzarbeiter des Glücks“.

Es stellte sich heraus, daß Ulrich Koch, der 1966 in Winsen an der Luhe geboren wurde und heute in Radenbeck bei Lüneburg lebt, eine baden-württembergische Phase hatte in seinem Leben: Studienjahre in Freiburg, auf Empfehlung von Martin Walser ein Auftritt beim Freiburger Literaturgespräch, Lesungen bei den Landeskunstwochen und beim SWR, er erhielt Stipendien der Stadt Freiburg, der Kunststiftung und des Förderkreises. 1995 erschien sein erster Gedichtband „Weiß ich“ im renommierten Residenz Verlag, 1998 der zweite Band „Auf mir, auf dir“. Wir erfuhren, dass dann eine Schreibpause, Schreibkrise folgte (der eine Krise bei seinem Hausverlag Residenz korrespondierte), in der erst einmal wieder das Leben mit ganzer Macht einbrach, Existenzsorgen auch. Dass er aber vor mehr als einem Jahr wieder mit dem Schreiben angefangen hat und seitdem Gedichte entstehen, die – so unser Eindruck von den Manuskriptproben – das Merkmal des wirklich Notwendigen tragen. Keine sprachlichen Klöppelarbeiten, kein bloßes Mittun im Betrieb. Überhaupt hält Ulrich Koch seine „Erfahrungen in der Arbeitswelt“ – Nachtdienst in einem Altersheim, Arbeit auf dem Bau und in einem Callcenter, zur Zeit: in der Personalvermittlung für einen Pflegedienst – für viel wichtiger als die Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb.

Ende der Nachtschicht

Ein ehemaliger Melker
zapft das Bier

Wir schlafen
im Stehn
still wie Milch

Vielleicht können nur in einer Situation, in der Gedichte wirklich „notwendig“ sind, Verse entstehen wie die eingangs zitierten:

Weißt du, was wir vergessen haben?
Wir haben vergessen, was unser Geheimnis war.
Jetzt weiß es jeder.


Wie soll jeder unser Geheimnis kennen, wenn wir selbst vergessen haben, wie es aussieht? Wer hat da nicht Assoziationen an eigene, vielleicht schmerzlich erfahrene Besonderheiten, an Gedankengespinste, die man irgendwann aufgehoben sah im großen Allgemeinen. Aber: „Nichts ist selbstverständlich, wir haben uns nur an manches gewöhnt“, lautet ein Notat des Lyrikers Rainer Malkowski, mit dem sich Ulrich Koch im übrigen sehr verbunden fühlte und mit dem er kurz vor dessen Tod einen kleinen Briefwechsel hatte.

„Geheim“ bedeutete ursprünglich: zum Haus gehörend, zur persönlichen Sphäre. Diesen Gegenpol zu Generalisierung und Konvention meint auch der Frühromantiker Novalis, wenn er postuliert: „Je persönlicher, lokaler, temporeller ein Gedicht ist, desto näher steht es dem Centro der Poesie.“ Guten Gedichten gelingt es, uns wieder an unser Geheimnis zu erinnern, bzw. daran, nicht zu vergessen, dass es eines gibt oder: viele! Sie leisten sozusagen eine wunderbare Geheimnisvermehrung, von denen sich der einzelne nährt. Das Allgemeine hat nur ein einziges Brot bzw. Geheimnis, das aber sehr trocken schmecken kann und schnell zur Neige zu gehen scheint.

Geheimnisse – die kleinen, individuellen – gedeihen besonders gut dort, wo die Sprache etwas anders als gewohnt behandelt wird. Wo kleine Verschiebungen entstehen, gewohnte Assoziations-Ketten aufreißen. Wo Verse uns packen und woanders wieder absetzen. Lars Gustafsson spricht in seinen Tübinger Poetik-Vorlesungen von „tragenden Metaphern“, die tragen wie Eis, egal, was darunter liegt. „Man kann Metaphern in Frage stellen, aber kaum verneinen“, bemerkt er. Und: „Die tragenden Metaphern verschaffen uns keine neuen Kenntnisse. Sie machen etwas mit der Kenntnis, die wir bereits haben.“

Von Gedichten sollte man also keine neuen Erkenntnisse über die Welt erwarten, jedenfalls keine faktischen. Eher: eine Erkenntnis über unsere Erkenntnismöglichkeiten. Einen kleinen poetischen Strom, der unsere Gedanken durchläuft und verändert zurücklässt, wie diese Zeilen aus dem Gedicht „Herbstbilder“:

Das Bild mit dem Baum hängt schief,
und es fallen die Blätter.
Das Bild vom Meer schwankt.
Das Bild von der Mutter ist schwarzweiß.


Im März war in der Eßlinger Zeitung, in der von Anna Breitenbach betreuten Rubrik „Frische Gedichte“, folgendes Gedicht von Ulrich Koch mit dem Titel „März“ zu lesen:

Im Dunkel der Schränke
reifen die Sommerkleider
bis sie durchsichtig sind
und geblümt
bis sie schweben


Die Sommerkleider reifen: als Sommerkleider im März, im Dunkel der Schränke, in diesem Gedicht. Diese Verse haben mich eine Zeitlang verfolgt – immer, wenn ich meinen Kleiderschrank öffnete, habe ich erwartet, dass eines der Sommerkleider, die dort drinnen wohl ein Eigenleben führen, an mir vorbei aus dem Zimmer schwebt, „sommerbereiter“ als ich.

Zu diesem Gedicht passt sehr schön Lars Gustafsson Definition des Gedichts als „Augenblicksartefakt“ (wieder aus den Tübinger Poetik-Vorlesungen): „Das Gedicht kann man vielleicht als den Versuch sehen, an Stelle des nicht festzuhaltenden Augenblicks einen artifiziellen Augenblick zu schaffen, zu dem wir beliebig zurückkehren können: ein Augenblicksartefakt. (…) Das Gedicht ist eine Anordnung, mit der wir uns gegen die Nichtigkeit wehren, die uns umgibt.“

Diese „Anordnung“ erfordert eine wirkungsvolle Form. Früher sorgten feste Rhythmen und der Reim für Einprägsamkeit und Beschwörungsintensität; die heutige Lyrik findet ihre Form in der kunstvollen, die Wörter belauschenden Sprachverwendung, in der Inszenierung der Bilder und in der konzentrierten Ausleuchtung immer neu aufgefächerter, „geheimer“ Sphären des Lebens.
„Wenn Gedichte glücken“, schreibt Rainer Malkowski in seinem Essay „Lyrik – Bemerkungen über eine exotische Gattung“, „wenn Gedichte glücken, erzählen sie in schwindelerregender Kürze eine unendliche Geschichte. Das macht sie zum Proviantformat unter den literarischen Formen.“

An dieser „unendlichen Geschichte“, die in einem Gedicht verborgen liegt, wirkt auch das Nicht-Ausgesprochene, Nicht-Ausgeplauderte mit, das „bewahrte Geheimnis“. In Lyrikdiskussionen ist meiner Ansicht nach zu oft von der „Behandlung des Sprachmaterials“ etc. die Rede, und zu wenig davon, auf was die Verse verweisen, was sie mit den Zeilen/zwischen den Zeilen gestalten, denn ein Gedicht, der Gedichtzauber! besteht/entsteht aus beidem: dem Gesagten und dem Ungesagten. Die Sprache kann einen zu vielem führen (oft ist nichts spannender, als sich ihr anzuvertrauen), aber das gelungene Gedicht reicht darüber hinaus. Und hier zeigt sich der Unterschied zwischen Geheimniskrämerei und hoher Zauberkunst. Auch Malkowskis „schwindelerregende Kürze“ ist eine leider nicht genug geschätzte Qualität.

Aufs Ende zu noch eine kleine Abschweifung zur Frage der Form. Bei Ulrich Koch, auch in den beiden bereits veröffentlichten Bänden, finden sich immer wieder Gedichte in gebundener Form: also Gedichte mit Reim, mit augenzwinkernden Verweisen auf die Tradition. Reim bedeutet auch: Stimmigkeit, Harmonie, aber es gibt ja Momente, wo sich das Glück in einer fragilen Übereinstimmung mit der Welt einstellt. In dem unveröffentlichten Gedicht „Summen im Bierzelt“ heißt es, sozusagen als Illustration zu Gustafssons „kleinen Siegen über die Nichtigkeit des Lebens“:

Sprachverloren und ganz friedlich
summ ich meine Schlachtgesänge.
Und mein Leben zieht sich, zieht sich
überglücklich in die Länge.

Ob langes oder kurzes Gedicht, es sollte sich bei uns einschleichen mit geheimer Macht und uns ein Konzentrat sehen lassen, von dem wir uns gerne merken, wo es verwahrt ist – die folgenden Verse, deren Florett-Treffer gegen die „Nichtigkeit“ sicher Lars Gustafsson gefallen würden, finden sich in Ulrich Kochs poetologischem Gedicht „Was dachtest du nicht“:

Was dachtest du nicht,
was Poesie sei!

Augenblicke,
wie Stichstraßen ans Meer.
Lichte Momente,
schwer
wie Blei.

Alpen aus Wolken.

Und vorbei.